Indien: Eine Schule gegen Ignoranz

Gemeinsam mit der großzügigen Hilfe unserer KundInnen konnten bis Sommer 2014 fast 10.000,- Euro nach Ladakh überwiesen werden. Durch den direkten Kontakt unserer Mitarbeiterin Daniela vor Ort ist eine zweckgebundene Verwendung der Gelder sichergestellt. Die aktuellen Bilder zeigen eindrücklich, welche Freude die Kinder haben!

Ein Herzensprojekt. Als die Ladakh-Mitarbeiterin von Weltweitwandern, Daniela Luschin-Wangail, von einem ihrer Aufenthalte im Himalaya retour kam, brachte sie ein neues Projekt in ihrem Herzen mit – die Munsel-Schule für Kinder mit besonderen Bedürfnissen.

Hier lesen Sie ihren sehr persönlichen Bericht:

“Behindertes Kind jahrelang versteckt gehalten.” Schlagzeilen wie diese erschüttern. Besonders wenn man die Mutter eines Kindes mit Handicap ist. In Ladakh – einer Region im indischen Himalaya an der Grenze zu Pakistan und Tibet – gehört das „Verstecken“ zum Alltag vieler behinderter Menschen. Die Förderung von Kindern mit Einschränkungen ist für viele ein Fremdwort. Mara Casella, eine engagierte Schweizerin, hat sich diesem Problem mit der von ihr gegründeten Munsel-Schule angenommen.

Meine Reise nach Ladakh im Sommer 2011 war eine Premiere.

Nein, es war nicht das erste Mal, dass ich dieses durchschnittlich auf 3.500m hoch gelegene Himalayagebiet besuchte. Es war das erste Mal, dass ich es mit meinem Sohn Luis Thayas bereiste, der im Jänner 2011 mit Down-Syndrom geboren wurde. Gedanken kreisten in meinem Kopf. Wie wird er angenommen? Sein Vater ist Ladakhi und auch er machte sich Sorgen.

Das Karma ist schuld. Die buddhistischen Ladakhi haben einen anderen Zugang zu Behinderungen als wir im Westen. Mutationen, Chromosomen und Zufälle spielen für die meisten keine Rolle, wenn man nach Erklärungen sucht. Die Religion gibt andere Gründe. Als BuddhistIn glaubt man an das Karma – die Ansammlung von Handlungen eines Individuums, die über künftige Wiedergeburten entscheidet. Einfach gesagt: Gutes Karma, gute Wiedergeburt. Schlechtes Karma, schlechte Wiedergeburt. Wenn ein Kind mit einer Behinderung zur Welt kommt, ist dies auf das Karma aus seinen Vorleben zurückzuführen. Auch das Karma der Eltern spielt hier im Glauben vieler Ladakhi mit. Weil wir auch karmische Vorbelastungen haben, wurde unser Kind mit Down-Syndrom geboren. Als „gute/r“ BuddhistIn kann man diese Herausforderung zwar auch als Chance begreifen, viele aber sehen es als Strafe.

Um das Thema Behinderung kreisen viele Vorurteile. Das falsch verstandene Karma als Strafe ist nur eines davon. Viele glauben auch, dass Behinderungen ansteckende Krankheiten sind und verstecken deshalb ihre Kinder. Gleichzeitig herrscht auch der Irrglauben vor, dass diese „ansteckenden Krankheiten“ mit Medikamenten behandelbar oder operabel und damit heilbar sind. Man verbirgt sie, behandelt sie zwar meist liebevoll, hat aber oft – aufgrund vieler Arbeiten am Feld – kaum Zeit für sie.

Wie viele Menschen mit Behinderungen es in Ladakh gibt, ist schwer zu sagen. Offizielle Zahlen gibt es nicht, gerade auch, weil viele nicht sichtbar sind. Man schätzt, dass von den 250.000 Einwohnern etwa 3.000 von geistigen oder körperlichen Behinderungen betroffen sind. Meiner persönlichen Einschätzung nach sterben einige schon während oder bald nach der Geburt oder werden nicht sehr alt, weil die medizinische Versorgung gerade am Land sehr schlecht bis nicht vorhanden ist.

Fördern? Was ist das? Die Kinder, die mit körperlichen Handicaps geboren wurden, werden sehr häufig in Klöster gegeben (weil es gut für ihr Karma ist), wo sie auch eine Ausbildung erhalten. Individuelle Förderprogramme wie (physio-)therapeutische Maßnahmen, aber waren bislang nicht bekannt. Seit einigen Jahren gibt es jedoch gute Initiativen rund um Hilfestellungen und Fördermaßnahmen bei körperlichen Behinderungen – als Pionier ist hier der deutsche Verein Ladakh-Hilfe (oder auch REWA-Society) zu nennen.

Für die Bedürfnisse von Menschen mit mentalen Einschränkungen ist das Angebot an Fördermaßnahmen aber leider noch sehr dürftig. Einzig eine kleine Schule im Süden von Leh, der Hauptstadt Ladakhs, sticht hier ins Auge: Die Munsel-Schule. Munsel ist Ladakhi (ein tibetischer Dialekt) und heißt so viel wie „Ignoranz aufheben“. Wie passend der Name doch ist.

Eine Schweizer Pionierin. Als Mara Casella, eine italienisch sprechende Sonderheilpädagogin aus der Schweiz, 2003 zum ersten Mal nach Ladakh kommt, findet sie hier nichts an Einrichtungen für geistig Behinderte. Sie kommt 2004 noch einmal, besucht Schulen, fragt nach Kindern mit Behinderungen, spricht mit Eltern. Daraufhin beschließt sie der Schweiz den Rücken zu kehren und in Ladakh zu arbeiten. Anfangs geht sie in Familien, arbeitet dort mit betroffenen Kindern und in einer Regelschule als Sonderpädagogin. 2008 aber eröffnet sie mit engagierten Eltern und LehrerInnen die bereits erwähnte Munsel-Schule. Eine kleine Schule, die mit einfachen, aber praktischen Mitteln Kindern mit geistigen Handicaps einen Platz und entsprechende Förderungen bietet.

Derzeit werden 15 Kinder im Alter von 4 bis 16 Jahren an drei Werktagen unterrichtet. Drei von den 15 sind Kinder mit dem Down-Syndrom. Jedes der Kinder hat einen individuellen Förderplan und eine persönliche Trainerin. Darüber hinaus gibt es SpezialistInnen – PhysiotherapeutInnen, LogopädInnen, KunstherapeutInnen usw. – die auch mit den Kindern arbeiten.

Die Nachfrage nach weiteren Plätzen ist groß, aber das Gebäude ist klein und es gibt zu wenig ausgebildetes Personal. Mara Casella hat die meisten LehrerInnen selbst ausgebildet, da es vor Ort keine Möglichkeit zur anderweitigen Ausbildung gibt. Derzeit wird nach einem Grundstück gesucht auf dem man ein neues und größeres Schulgebäude errichten kann.

Norzin, der strahlende Mittelpunkt. Beim Besuch der Schule im Juli 2011 stach ein Mädchen sofort ins Auge. Sie ist bis heute der Mittelpunkt, hält alle auf Trab, bringt alle zum Lachen. Norzin, mit Down-Syndrom geboren, war damals sieben Jahre alt, wirkte aber viel jünger. Sie sprach einzelne Wörter, ihre Augen aber redeten viel mehr – sie strahlte mich an. Eines konnte sie besonders gut – das erzählten mir gleich alle LehrerInnen. Sie war und ist eine begabte Tänzerin. Wenn sie Musik hört, ist sie nicht mehr aufzuhalten. Eine geborene Entertainerin. Ich hatte sie sofort ins Herz geschlossen.

Es stellte sich heraus, dass ihre Eltern mit meinem Mann entfernt verwandt sind. Wir luden sie zu uns nach Hause ein. Ich war gespannt. Mein erster Austausch mit einer Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom aus Ladakh. Sie ist gebildet, kommt aus einer guten Familie, ist Geschäftsfrau und Hotelbesitzerin. Liebevoll gehen sie und ihr Mann mit Norzin um. Während Norzin mit meinen beiden Söhnen spielte, sprach ich mit ihrer Mutter, Dolma.

Als Norzin in Leh geboren wurde, sprach keiner über das Down-Syndrom. Die ÄrztInnen warfen sich zwar komische Blicke zu, sagten aber nichts. Dolma wirft ihnen noch heute vor, ihr die Wahrheit bewusst vorenthalten zu haben. Sie wusste von Anfang an, dass irgendetwas nicht stimmte. Norzin war schwach, legte kaum Gewicht zu, aß wenig. Als die Probleme größer wurden, flog sie mit ihr nach Delhi und ging dort ins Krankenhaus. Da kam auch der Schlag ins Gesicht. Diagnose Down-Syndrom. Erst wusste Dolma nichts damit anzufangen. Nachdem es ihr erklärt wurde, kam die Trauer und Wut. Sie wünschte sich so sehr ein Kind, auf das sie eines Tages stolz sein konnte. Eines das auf die Uni gehen würde, eine große Frau werden würde. Das Fachpersonal war wenig hilfreich. Ein Arzt machte ihr gar Vorwürfe. Sie sei eine gebildete Frau, wieso sie sich keiner Pränataldiagnostik unterzogen hätte. Ein anderer wiederum machte falsche Hoffnungen. Die Wissenschaft sei heute so weit, wer weiß, vielleicht sei das Down-Syndrom irgendwann heilbar.

Dolma war erschüttert. Norzin wurde am Herzen operiert. Wieder zurück in Ladakh, wollten ihre Eltern sie nicht verstecken. Sie nahmen Norzin überall mit hin. Sie unterstützen Mara beim Bau der Schule und Norzin war eine der ersten SchülerInnen.

Trotzdem ist Dolma noch immer traurig. Klammert sich an falsche Hoffnungen, anstatt das Schöne an ihrer Tochter zu sehen. Ich kann ihre Einstellung nicht verstehen. Für ladakhische Verhältnisse aber ist sie eine fortschrittliche Frau.

Eine Schule auf selbständigen Beinen. Mara Casella lebt seit dem Sommer 2014 nun wieder in der Schweiz, weil die Jahre in Ladakh sie gesundheitlich und auch finanziell stark beeinträchtigt haben. Trotzdem verfolgt sie die Entwicklung der Schule sorgfältig und hat das LehrerInnenteam auf das selbständige Fortführen der Schule entsprechend vorbereitet.

Ein anderes Problem ist das finanzielle. Die Schule ist noch immer auf Spenden angewiesen. Zwar gibt es inzwischen Hilfe von staatlicher Hilfe, doch die reicht nicht aus. Und damit die 15 Kinder weiterhin so gefördert werden wie bisher oder gar zusätzliche Plätze geschaffen werden können, benötigt die Munsel-Schule auch weiterhin die Hilfe spendenfreudiger Menschen.

Viele Ladakh-FreundInnen fragen mich, welches Projekt ich in Ladakh unterstützungswürdig finde. Seit 2011 fällt mir die Antwort darauf nicht mehr schwer. Die Munsel-Schule ist zu meiner Herzensangelegenheit geworden und wann immer jemand ein paar Euro einer guten Sache widmen möchte, dann kann ich ihr/ihm Mara und ihr Projekt wärmstens empfehlen.

Das Team von Weltweitwandern ist sehr gerührt von dem Engagement der Munsel-Schule und hat sich nach Danielas Bericht spontan dazu entschlossen die Schule als Partnerprojekt zu unterstützen.